DAS FIT-PRINZIP

Jedes Lebewesen, ob Bakterium, Pflanze, Tier oder Mensch, ist unablässig bemüht, in Übereinstimmung mit seiner Umwelt zu leben. So wie der Mensch im Verlauf der Evolution aus einem unablässigen Zusammenwirken von Anlage und Umwelt hervorgegangen ist, bemüht sich jeder Mensch von der Kindheit bis ins hohe Alter, seine Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Das Baby will so viel Milch trinken, wie es für sein Wachstum benötigt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das Schulkind will dann lesen und rechnen lernen, wenn es entwicklungsmässig dazu bereit ist. Der Erwachsene will bei der Arbeit die Leistung erbringen, zu der er fähig ist. Das Bemühen, seine Bedürfnisse zu befriedigen und seine Fähigkeiten zu entfalten und sie nutzen zu können trägt wesentlich zum Lebenssinn bei, von der Geburt bis ans Lebensende. Das unablässige Verlangen jedes Menschen dabei in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben ist der Kern des Fit-Prinzips.

 

Vom Studium der kindlichen Entwicklung zu einem neuen Menschenbild

Meine wissenschaftliche Tätigkeit in den Zürcher Longitudinalstudien während mehr als 30 Jahren hat mir zu einem neuen Menschenbild verholfen. An der Abteilung für Wachstum und Entwicklung des Universitäts-Kinderspitals Zürich wurde während mehr als 50 Jahren die kindliche Entwicklung von mehr als 900 Kindern in zwei aufeinanderfolgenden Generationen umfassend dokumentiert. Ihre Entwicklung wurde in zahlreichen Bereichen wie Motorik, Sprache und Wachstum von der Geburt bis ins Erwachsenenalter erfasst. Eine erste, wichtige Einsicht aus den gesammelten Daten war, dass alle Fähigkeiten von Kind zu Kind sehr unterschiedlich ausgebildet sind. So gibt es Kinder, die bereits mit drei bis vier Jahren lesen lernen, während andere auch als Erwachsene dazu kaum fähig sind. Kommt hinzu, dass die einzelnen Fähigkeiten auch beim einzelnen Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind. So ist der eine Mensch sprachlich und sozial sehr kompetent, nicht aber motorisch und mathematisch; bei einem anderen Menschen ist es genau umgekehrt. Genauso wie mit den Fähigkeiten verhält es sich mit den Grundbedürfnissen der Menschen, etwa dem Bedürfnis nach Geborgenheit oder Selbstentfaltung. Der eine Mensch hat ein grosses Bedürfnis nach Geborgenheit, ein anderer weniger, dafür will er umso mehr seine Begabung, etwa seine schriftstellerischen, zur Entfaltung zubringen. Diese Vielfalt zwischen den Menschen und beim einzelnen Menschen besteht bereits bei der Geburt und wird im Verlaufe des Lebens immer grösser. Jeder der mehr als 7 Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Welt leben, ist einzigartig.

 

Die Individualität eines Menschen verstehen

Die Menschen erscheinen uns als so vielfältig und komplex, dass wir sie nur schwer verstehen können. Sie haben jedoch nicht beliebig viele unterschiedliche Eigenschaften. Im Fit-Prinzip werden sechs Grundbedürfnisse wie Geborgenheit und Selbstentfaltung sowie acht Kompetenzen wie Sprache oder logisch-mathematisches Denken unterschieden.

Der Eindruck von Vielfalt und Komplexität entsteht, weil die Grundbedürfnisse und Kompetenzen von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgebildet sind, was dazu führt, dass jeder Mensch sein eigenes Profil von Bedürfnissen und Fähigkeiten aufweist. Wenn wir uns bemühen, die Einzigartigkeit der Profile zu begreifen, verstehen wir uns selbst und auch die Mitmenschen besser.

 

Wir können nicht irgendein Leben führen, sondern nur unser eigenes

Das Fit-Prinzip besagt: Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Das Prinzip beruht auf einer ganzheitlichen Sichtweise, die die Vielfalt unter den Menschen, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen und das Zusammenwirken von Individuum und Umwelt als Grundlage der menschlichen Existenz versteht.

Die Ausprägung ihrer individuellen Bedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen bestimmen in einem hohen Masse, wie die Menschen leben wollen. Genauso wie jeder Mensch in seinem Wesen einzigartig ist, ist auch sein Lebensweg einmalig. Nur im gegebenen Rahmen seiner Bedürfnisse und Kompetenzen kann er ein zufriedenes Leben führen. Das könnte man als Einschränkung verstehen, es hat aber auch etwas sehr Befreiendes. Wir müssen nicht Ausnahmeleistungen erbringen. Die eigenen Grenzen zu akzeptieren, uns so zu nehmen, wie wir nun einmal sind, schützt auch vor Überforderung und Stress.

 

Das Fit-Prinzip hilft nicht nur uns selbst, sondern auch den Mitmenschen und seine Lebenssituation besser zu verstehen, beispielsweise einen Menschen, der an einer Leseschwäche leidet. Wenn wir erfahren, wie sehr ihn dies einschränkt, dann können wir ihn besser verstehen und ihn darin unterstützen, damit bestmöglich umzugehen. Wenn wir die Stärken und Schwächen, die Kompetenzen und Bedürfnisse unserer Mitmenschen kennen, können wir abschätzen, welche Erwartungen realistisch sind und diesen entsprechen.

 

Ein passendes Leben zu führen ist kein Dauerzustand, sondern ein dauerndes Bemühen

Jeder Mensch bemüht sich von Tag zu Tag, sich so auf die Umwelt einzustellen, dass er seine Grundbedürfnisse möglichst gut befriedigen kann. Dazu setzt er seine Kompetenzen ein und orientiert sich an seinen Vorstellungen. Gelingt es ihm, fühlt er sich körperlich und psychisch wohl und verfügt über ein gutes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstwirksamkeit. Dabei kommt es immer auch darauf an, welche Erfahrungen er in der Vergangenheit gemacht hat, in welcher Lebenssituation er sich befindet und welche Erwartungen er an die Zukunft hat.

 

Keinem Menschen ist es wohl je gelungen, in einer ständigen Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Es wäre auch nicht erstrebenswert. Misfit-Situationen, die das Individuum eigenständig zu bewältigen vermag, gehören zum Alltag. Sie sind ein Ansporn, sich in einem bestimmten Lebensbereich vermehrt einzusetzen, was uns ja zumeist auch gelingt. Es kann uns eher gelingen, wenn wir uns unserer Einzigartigkeit mit all ihren Stärken und Schwächen bewusst sind. In Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben ist der Weg, nicht das Ziel.

 

Misfit-Situationen

Wenn wir es nicht schaffen, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, sind wir in eine Misfit-Situation geraten. Wir sind in unserem körperlichen und psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt und können ernsthaft erkranken, an psychosomatischen Symptomen wie Kopf- und Bauchschmerzen leiden, depressiv werden oder gar in ein Burn-out fallen.

 

Ob wir ein passendes Leben führen können oder in eine Misfit-Situation geraten, hängt auch von den Lebensumständen ab. So können gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten ein passendes Leben ermöglichen oder verhindern. Heutzutage können viele Menschen ihre Grundbedürfnisse unterschiedlich gut befriedigen:

  • Körperliche Integrität: Ernährung und Gesundheitsversorgung sind für die allermeisten Menschen gewährleistet.
  • Emotionale Sicherheit: Geborgenheit ist immer häufiger vor allem für Kinder und alte Menschen immer weniger sichergestellt. Ihnen fehlt die Gemeinschaft vertrauter Menschen, denn nur sie kann Geborgenheit vermitteln.
  • Soziale Anerkennung, sozialer Status: Immer mehr Menschen erhalten nicht mehr die soziale Anerkennung, die sie benötigen und fühlen sich in der Gesellschaft randständig.
  • Selbstentfaltung: Kinder und Erwachsene können ihre Fähigkeiten immer weniger entfalten. In der Schule werden diejenigen Fähigkeiten gefördert, die von der Wirtschaft verlangt werden. Die Wirtschaft besteht aus 75 % Dienstleistung. Was ist mit all den Menschen, die sich körperlich und handwerklich betätigen möchten?
  • Befriedigung durch Leistung: Immer weniger Menschen können die Leistungen erbringen, die sie eigentlich möchten. Sie führen fremdbestimmt Aufträge aus, die der Arbeitgeber von ihnen verlangt. Sie arbeiten für ihren Lebensunterhalt, den Sinn ihrer Tätigkeit sehen oftmals nicht mehr ein.
  • Existenzielle Sicherheit: Ist nicht für alle Menschen gewährleistet, insbesondere im Alter.

Die Befriedigung der Grundbedürfnisse ist genauso ein Menschenrecht wie Freiheit und Gerechtigkeit.

 

In der Gesellschaft und Wirtschaft herrscht immer noch die Meinung vor, wir wären alle gleich, alle Menschen müssten alles können, was – wie wir alle wissen – nicht stimmt.

 

Wir leben in einem Zeitalter der allgemeinen Verunsicherung

Es gibt zahlreiche Gründe, weshalb die heutige Gesellschaft und Wirtschaft es uns immer schwerer macht, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. So wird die Digitalisierung und Automatisierung in der Wirtschaft dazu führen, dass es zukünftig immer weniger Arbeit geben wird. Wie also sollen der Lebensunterhalt bestritten und all die staatlichen Institutionen wie Bildungs- und Gesundheitswesen finanziert werden? Damit einher geht eine Sinnentleerung der Arbeit, die  die Menschen immer unzufriedener macht. So fragen sich die Menschen: Wer trägt eigentlich Verantwortung für Gesellschaft und Wirtschaft? Wer sorgt dafür, dass wir genug zu essen haben, ein sinnerfülltes Leben führen können und unsere Altersvorsorge gewährleistet ist? Die Menschen glauben immer weniger daran, dass all dies in den kommenden Jahren noch der Fall sein wird. Sie leben wohl noch im materiellen Wohlstand, fürchten sich aber vor dem Abstieg. Ihre existenziellen Ängste übertragen sie auf die Kinder. Sie möchten, dass diese es genauso gut haben werden wie sie und setzen sie leistungsmässig unter Druck. Gross ist insbesondere die emotionale und soziale Verunsicherung. Wir Menschen sind nicht für eine anonyme Massengesellschaft gemacht, sondern für ein Leben in einer Gemeinschaft von vertrauten Menschen. Wir müssen uns neue Lebensformen schaffen, in denen Menschen jeden Alters zusammenleben, miteinander vertraut sind und Verantwortung füreinander übernehmen.

 

Das scheinbar Unmögliche denken

Immer mehr Menschen haben das Hamsterrad einer sinnentleerten Arbeit satt und suchen nach alternativen Lebensformen. Sie wollen Sinnvolles leisten, etwas das sie befriedigt und der Gemeinschaft dient. Sie wollen vermehrt in stabilen Gemeinschaften leben, beispielsweise in Mehrgenerationenhäusern. Wir müssen uns daranmachen, Gesellschaft und Wirtschaft umzugestalten. Wenn das gegenwärtige Gesellschafts- und Wirtschaftssystem an seine Grenzen kommt, müssen wir alternative Lebensformen geschaffen haben. Ein sozialer und wirtschaftlicher Zusammenbruch oder gar ein Krieg, wie sie früher immer dann aufgetreten sind, wenn ein System an seine Grenzen kam, können wir uns nicht mehr leisten. Wir müssen das scheinbar Unmögliche denken.